Radio-Interview mit der blauen Kartoffel

Radio-Moderator: 
Ein herzliches Hallo an alle Zuhörerinnen und Zuhörer. Heute werden wir über die Geschichte der Kartoffel sprechen. Und wer könnte da besser Auskunft geben, als die Kartoffel höchstpersönlich? Deshalb wird unser heutiger Studiogast, die Kartoffel, mit uns über ihren Wert über ihre Geschichte und über den Umgang mit ihr in der heutigen Landwirtschaft sprechen.
Jetzt rüber zu unserem Gast. Stellen sich bitte vor und erklären uns bitte, von woher Sie kommen.

Kartoffel: 
Herzliche Grüße an alle da draußen an den Radios. Ja ich bin es, die Kartoffel! Zuerst gab es mich vor ungefähr 9000 Jahren nur oben in den Bergen der Anden in Südamerika. Aber jetzt lebe ich fast überall auf der Welt. Ich werde in 148 Ländern angebaut!

Radio-Moderator: 
Ja, Sie sind wirklich sehr populär! Ich bin sicher, die meisten von unseren Zuhörern kennen Sie. Können Sie uns etwas über Ihre Geburt und Ihre Kindheit sagen?

Kartoffel: 
Ich wurde in Südamerika geboren. Angehörige vom Stamm der Aymara waren die ersten, die mich gepflanzt und mich aufgezogen haben. Sie lebten an den Ufern eines großen Sees, dem Titicaca-See. Die Leute der Aymara fanden in den Bergen wilde Kartoffeln und fingen an, sie auf ihren Feldern anzubauen. Tatsächlich können Sie noch heute wilde Kartoffeln in der Nähe vom Titicaca-See finden – sie werden dort „Fuchskartoffeln“ genannt. Man könnte also sagen, dass die Fuchskartoffeln meine Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Grosseltern sind. Aber wir Kartoffeln haben in jenen Tagen noch ganz anders ausgesehen. Wir waren höchstens so groß wie Pflaumen.

Radio-Moderator: 
Und so fingen die Aymara an, wilde Kartoffeln zu kultivieren. War es schwierig, die Kartoffeln anzubauen, oben in den Bergen?

Kartoffel: 
Es war auf einer Hochebene, die ziemlich kalt und trocken war, woher ich stamme. Aber die Landwirte der Aymara waren sehr kreativ. Sie gruben Kanäle und benutzten den Aushub, um damit ihre Felder anzuheben. Dann pflanzten sie mich auf diesen angehobenen Flächen. Das Wasser in den Kanälen hielt den Boden feucht, selbst wenn das Wetter sehr trocken war. Das Kanalwasser half aber auch, den Boden nicht so leicht einfrieren zu lassen.

Radio-Moderator: 
Das war wirklich einfallsreich! Was machten die Leute der Aymara dann mit Ihnen?

Kartoffel: 
Eine ganze Weile trockneten sie mich und lagerten mich ein, um mich später zu essen. Für diese Konservierung ließen sie mich im Boden, bis ich gefroren war. Dann gruben sie mich aus, und trampelten auf mir herum, um das Wasser heraus zu pressen, wobei ich in kleine Stücke zermatscht wurde.

Dann trockneten sie mich in der Sonne. Anschließend lagerten sie mich in kühlen unterirdischen Erdmieten. Wenn sie wollten, konnten sie mich für 10 Jahre dort aufbewahren. Um mich dann zu essen, nahmen sie mich aus der Erdmiete heraus, vermischten mich mit Mehl und backten daraus Brot. Und ich möchte Ihnen an dieser Stelle erklären, dass mich die Leute der Aymara noch heute auf beinahe gleiche Art und Weise anbauen, verarbeiten und speichern. Wir haben da nämlich ein ganz spezielles Verhältnis!

Radio-Moderator: 
Okay, jetzt wissen wir einiges über Ihr Verhältnis zu den Menschen der Aymara. Sie waren die ersten, die Sie angebaut haben und sie erfanden allerhand interessante Arten, Sie zu speichern und zu verwenden. Und heute, also viele Jahrhunderte später, sind Sie immer noch bei ihnen. Gibt es irgendwelche anderen Leute oder Kulturen, zu denen Sie ein ähnlich spezielles Verhältnis haben?

Kartoffel: 
Oh ja. Ich habe viele ausgezeichnete Beziehungen zu den unterschiedlichsten Völkern genossen. Bei den Inkas war ich SEHR populär. Sie lebten in Südamerika einige hundert Jahren nach den Aymara. Ich möchte hier nicht überheblich klingen, aber ich war der Kern ihrer Inka-Kultur.

Radio-Moderator: 
Der Kern ihrer Kultur? Waren Sie wirklich DERMASSEN wichtig?

Kartoffel: 
Und ob! Ich meine, die Inkas hatten Kartoffelgötter! Sie töpferten ihre Tonwaren, die wie Kartoffeln geformt wurden. Sie rieben mich auf der Haut von kranken Patienten, und verwendeten mich, um Frauen bei der Geburt zu helfen. Ich war überall! Ihre Sprache hat mehr als tausend Wörter zum Beschreiben der Kartoffeln und der Kartoffelvielfalt.

Radio-Moderator: 
Wow! – wenn das keine Kartoffelkultur ist! Es gibt eine weitere Sache, die ich Sie fragen möchte – aber bitte seien Sie nicht beleidigt.

Kartoffel: 
Bitte…., nur voran. Ich bin ziemlich robust und widerstandsfähig.

Radio-Moderator: 
Ich habe weiße und gelbe Kartoffeln gesehen. Aber Sie sind eine blaue Kartoffel!

Kartoffel: 
Richtig! Ich komme ja in jeder Farbe des Regenbogens vor! Weiß, Gelb, Rot, Blau, Schwarz, Orange, Purpurrot, Pink… und auch in jeder Form und Größe! Ich kann klein, groß, holperig, rund, glatt sein, dünn oder dick. Und wir Kartoffeln haben ganz unterschiedlichen Geschmack – ganz guten Geschmack selbstverständlich!

Radio-Moderator: 
Sie müssen wirklich sehr stolz sein, aus einer Familie mit derart attraktiver und köstlicher Vielfalt zu stammen.

Kartoffel: 
Ja, das bin ich, obwohl ich durch einige Dinge in diesen Tagen betrübt bin. Aber vielleicht sollten wir da jetzt nicht einsteigen… (traurig klingend)

Radio-Moderator: 
Aber ja doch, erzählen Sie bitte… wir haben noch Zeit. Besonders wenn Sie etwas auf dem Herzen haben.

Kartoffel: 
Nun gut. Obwohl es tausende Arten von Kartoffeln auf der ganzen Erde gibt, gehen viele verloren. Die vielen Sorten, die um uns herum gewesen sind, also überall in den vielen Gemeinschaften und Kulturen, sie drohen immer mehr zu verschwinden.

Radio-Moderator: 
Warum ist das ein Problem für Sie?

Kartoffel: 
Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben, um Ihnen zu zeigen, warum das ein Problem ist. In den Anden, in denen ich geboren bin, arbeiten die Bauern mit über 200 Arten von Kartoffeln und 5.000 Sorten. Für die Menschen in diesen Bergen sind die unterschiedlichen Arten der Kartoffeln so unterschiedlich wie für Sie das Fleisch von einem Schwein, von einem Rind und von einem Huhn. Sie essen eine Kartoffelsorte zum Frühstück, eine andere für das Mittagessen und eine dritte für Abendessen! Wenn die Kartoffeln so wichtig sind, ist das natürlich sehr gut für unser Überleben.
Aber an einigen Plätzen in der Welt wachsen nur noch sehr wenige Sorten. Dieses kann GROSSE Probleme verursachen. Haben Sie etwas von der Kartoffel-Not in Irland gehört? Vor über 100 Jahren aßen die Iren eine Menge Kartoffeln – sie waren ihre Hauptnahrung. Aber die Iren kannten keine große Vielfalt bei ihren Kartoffelsorten. Eine verheerende Krankheit überkam das Land und zerstörte die meisten Kartoffeln. Möglicherweise eine Million Menschen verhungerten. Diese Katastrophe hätte nicht geschehen können, wenn es dort eine größere Vielzahl an Kartoffelsorten gegeben hätte.

Radio-Moderator: 
O.K.. Jetzt verstehe ich, warum große Vielfalt im Kartoffelanbau wichtig ist. Wenn ich ein Landwirt wäre, welchen Tipp würden Sie mir geben?

Kartoffel: 
Tja, um damit anzufangen: Warum nicht mehrere Sorten auf einem Feld anbauen? Beachten Sie die Art des Bodens, die Niederschläge, die Hanglage und wie viel Sonne das Feld erhält. Und dann pflanzen Sie die Kartoffelsorten, die sich gut unter diesen Bedingungen eignen. Sie sollten ein breites Band von Eigenschaften haben, damit sie den unterschiedlichen Krankheitserregern und Schädlingen bestmöglichst widerstehen können.

Radio-Moderator: 
Gut, meine Verehrteste – SIE sind wirklich eine Persönlichkeit! Es war mir ein großes Vergnügen, mit Ihnen sprechen zu dürfen und ich habe viel über Sie und alle Ihre Verwandten gelernt. Danke, dass Sie heute her gekommen sind. Möchten Sie zum Schluss noch irgendetwas sagen?

Kartoffel: 
Alles, das ich den Zuhörern sagen möchte, ist: Pflanzen Sie viele Kartoffeln! Pflanzen Sie viele unterschiedliche Kartoffel-Sorten! Und essen Sie eine Menge Kartoffeln – wir sind gut für Sie!

Quelle: Farmradio Ottawa, Kanada